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Die Illustration zeigt eine gezeichnete Person, die ein Blatt hochhält mit einer Tabelle. Die Tabelle steht als Symbol für das systemische Modell von Germanwatch.

Systemisches Germanwatch Modell

Teil 4 der Reihe Transformationsmodelle

Aus Sicht der Transformationsforschung „besteht die ‘Große Transformation‘ unserer Gesellschaften hin zu einem sozial und ökologisch global gerechten Zusammenleben nicht aus einer großen Transformation, sondern aus vielen kleinen sequenziell und parallel verlaufenden Transformationsprozessen in verschiedenen Subsystemen, die zu einem Wandel der gesellschaftlichen Entwicklung oder der Systemdynamik führen“ (Göpel/Remig 2014: 70). Dabei kommt es zu Ungleichzeitigkeiten und Brüchen.

Dieser Beitrag ist der vierte und letzte Teil einer Blog-Reihe zu Modellen der Transformation, die erklären, wie wir die sozial-ökologische Transformation voranbringen können. Die beschriebenen Modelle in unserer Reihe erklären den Wandel auf ihre je eigene Art und Weise. Alle Modelle beinhalten wichtige Perspektiven für zivilgesellschaftliches Engagement und zeigen spannende Andockstellen für die Bildungsarbeit und unser Engagement auf. Die jeweils unterschiedlichen Schlussfolgerungen für die praktische Anwendung fassen wir für dich zusammen. 

Systemisches Modell von Germanwatch

In diesem Beitrag zeigen wir euch auf auf welcher Grundlage Germanwatch Lobbyarbeit für den klimaschutz und viele andere Themen macht. Die Basis dafür ist unser systemisches Grundverständnis der Welt als ein System, das aus vielen Teilsystemen besteht, die miteinander interagieren, jedoch alle ihre eigenen Logiken haben.

Zentrale Aussage

Eine Grundlage für die Arbeit von Germanwatch ist das Verständnis von und über unterschiedliche gesellschaftliche Akteur:innen und der sie treibenden Interessen und Systemlogiken. Es gibt nicht nur eine Entscheidungsinstanz für die Gesellschaft. In der Neuzeit haben verschiedene Teilsysteme eine eigene Logik mit eigenem Code, der ihre Entscheidungen vorstrukturiert. Das politische Teilsystem hat allerdings nach wie vor eine rahmensetzende Sonderrolle, wenn die anderen Teilsysteme (vor allem Wirtschaft, Finanzmarkt, Technologie) mit den gemeinwohlorientierten gesellschaftlichen Zielen in Konflikt geraten. Wie die vom Soziologen Niklas Luhmann maßgeblich inspirierte Systemtheorie herausgearbeitet hat, wäre es naiv, diese Selbstorganisation der Teilsysteme in einer komplexen Gesellschaft nicht zu berücksichtigen (Luhmann, 1997).

Anders als Luhmann, denken wir bei Germanwatch, dass der Öffentlichkeit eine besondere Rolle zukommt, denn es gibt eine lebendige Zivilgesellschaft, eine starke Rolle der Wissenschaft und normative, d.h. gesamtgesellschaftlich prägende, Debatten. Von der Öffentlichkeit gehen dementsprechend die zentralen Impulse für die notwendige Rahmensetzung beziehungsweise Regulierung der Teilsysteme aus (vgl. auch Habermas, 1994).

Verschiedene Teilsysteme und ihre Logiken

Die Logik, auf die die unterschiedlichen Teilsysteme ansprechbar sind, werden nach Luhmann auch Codes genannt. Beispielsweise können Akteur:innen aus der Politik (Code: Macht) nicht allein mit moralischen Argumenten überzeugt werden, sondern benötigen vielmehr solche Argumente, die ihrem Code entsprechen. Einer Politikerin zu sagen, es wäre gut das Klima zu schützen, um den Planeten zu retten, ist zwar richtig, aber nicht unbedingt wirkungsvoll. Ihr muss mindestens auch gezeigt werden, weshalb ihre Klimaschutz-Entscheidungen zur Wiederwahl führen werden. Genauso ist es bei Akteur:innen anderer Teilsysteme, beispielsweise in der Wirtschaft (Code: Profit). Ein börsennotiertes Unternehmen wird sich nur zu mehr Klimaschutz verpflichten, wenn es davon überzeugt ist, dass Klimaschutz ein profitables Geschäftsmodell ist. Für Vorreiterunternehmen in Sachen Klimaschutz ist dies durchaus der Fall, wenn sie dadurch eine bessere oder zumindest ausreichende Marktposition ergattern – sei es durch zukunftsfähige und wettbewerbsfähige Technologie oder durch einen relevanten Imagegewinn der für höhere Absätze sorgt oder weil es erlaubt, höher qualifizierte Mitarbeiter:innen für sich zu gewinnen.

Durch den Klimawandel ist die Existenz vieler Millionen Menschen gefährdet. Ein Verständnis der systemimmanenten Blindheit kann dabei helfen, Strategien zu entwickeln, wie diese Existenzgefährdung wenigstens teilweise überwunden werden (Bals, 2002). Es zeigt auf, wo es Möglichkeiten für Transformationsprozesse gibt, und wo (derzeit) nicht. Das Unternehmen, das freiwillig keinen Klimaschutz betreibt, wenn es glaubt, dadurch den Profit zu schmälern, wird ohne die entsprechenden Argumente nicht überzeugt werden. Stattdessen können Unternehmen indirekt über das Teilsystem Politik erreicht werden, etwa über zusätzliche politische Rahmensetzungen oder Regulierungen. Politiker:innen können Gesetze beschließen, die es Wirtschaftsunternehmen verbieten oder unmöglich machen, das Klima zu zerstören. Das werden Politiker*innen aber in aller Regel nur tun, wenn es ihre Wahlchancen nicht deutlich verschlechtert.

Sind nun auch die Regierungen und regierenden Parteien aus ideologischen oder eben wahltaktischen Gründen zu langsam, zaghaft oder blockieren gar ambitionierten Klimaschutz, können durchaus auch Entwicklungen in den anderen Teilsystemen die Transformation beschleunigen oder verlangsamen. Beispielsweise führen neue Innovationen im Teilsystem Technologie dazu, dass Erneuerbare Energien auch kombiniert mit Netz und Speicher nun vielerorts günstiger sind als die Verbrennung von Kohle. Damit verbessern sich, selbst wenn die Politik bremst, die Wettbewerbsbedingungen für Erneuerbare Energien gegenüber Kohle deutlich – wie etwa in den USA während (und trotz) der Regierung Trump zu beobachten war.

Im Teilsystem Justiz (Code: Recht) ist aufgrund der Passivität von Politik und Wirtschaft derzeit ebenfalls sehr viel Bewegung zu sehen. Während Betroffene des Klimawandels bei vielen politischen Entscheidungsträger:innen und Wirtschaftsakteur:innen nicht ernsthaft Gehör finden, werden sie zurzeit in verschiedenen Gerichten angehört. Einzelne grundlegende Urteile – etwa in den Niederlanden, wo die Kläger:innen erfolgreich für mehr Klimaschutz gegen ihre Regierung vorgingen– haben ihre Anliegen und damit die Transformation unterstützt. Die Betroffenen argumentieren beispielsweise auf nationaler oder europäischer Ebene, dass ihre Rechte verletzt werden und Recht gebrochen wird, wodurch die Justiz im Rahmen ihres Codes (Recht) reagieren kann. Die Justiz kann durch Rechtsprechung wiederum die Rahmenbedingungen der anderen Teilbereiche verändern, in dem sie Gesetze überprüft, über die Einhaltung der Grundrechte wacht und den Rahmen absteckt, innerhalb dessen Gesetze verfasst oder Wirtschaft betrieben werden.

Die folgende Abbildung zeigt die Teilsysteme mit ihren jeweiligen Codes und Zeithorizonten sowie den Einflussmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft. Die Zeithorizonte sowie die Rolle der Zivilgesellschaft werden unter der Abbildung erläutert.

Copyright: Germanwatch e.V. | Illustration: Benjamin Bertram

Unterschiedliche Zeithorizonte in den Teilsystemen

Für die gesellschaftlichen Teilsysteme gelten neben den verschiedenen Codes auch unterschiedliche Zeithorizonte. In der Politik bestimmen das Ende der Legislaturperiode und die Neuwahlen den entscheidenden Zeithorizont. Daher ist das Argument „die nachkommende Generation wird es Ihnen danken“ kein entscheidendes Argument für viele Politiker*innen, die bei der kommenden Wahl wiedergewählt werden möchten. Auch werden Finanzmarktakteur:innen nicht unmittelbar aus allen fossilen Wirtschaftszweigen aussteigen, auch wenn sie wissen, dass die fossile Spekulationsblase mittelfristig platzen wird. Es reicht aus, dass die Chancen für Profit in diesem Bereich auch nur kurzfristig – angetrieben vom Druck der Quartalsberichte der Unternehmen – ausreichend gegeben sind.

Der kurze Zeithorizont in den Teilsystemen Politik, Finanzwirtschaft und Wirtschaft ist tragisch, weil er nicht erlaubt gegenzusteuern, selbst wenn das kurzfristig rentable oder sich in Wahlen belohnte Handeln mittelfristig zur Selbstzerstörung führt. So konnte man etwa in den vergangenen Jahrzehnten beobachten, dass wir uns trotz einer zunehmenden Präsenz von Themen nachhaltiger Entwicklung und ihrer Dringlichkeit, in vielen Kontexten in eine negative Richtung oder zumindest nicht ausreichend schnell dorthin bewegen. So werden auch die existenziellsten Herausforderungen der Menschheit, wie zum Beispiel die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen durch die Klimakrise, das Artensterben, wachsende gesellschaftliche Ungleichheit oder die Missachtung von Menschenrechten im aktuellen Handeln von Akteur:innen in Politik, Finanzwirtschaft und Wirtschaft nur unzureichend berücksichtigt.

In der breiten Öffentlichkeit gibt es zumindest die Möglichkeit eines längeren Zeithorizonts für die gemeinwohlorientierten Ziele. Zwar haben auch Einzelpersonen eine begrenzte Lebenszeit, aber sie schauen nicht nur – wie aktuell der Finanzmarkt – auf das nächste Vierteljahr oder – wie viele Politiker*innen – vor allem auf die nächste Wahl. Durch persönliche Beziehungen sind sie meist emotional mit nachfolgenden Generationen verbunden und können außerhalb der oben beschriebenen Codes agieren.

Rolle der Zivilgesellschaft

Der Klimaökonom Hermann Held formulierte die Rolle der Zivilgesellschaft in einem Interview mit der taz so: „Die Zivilgesellschaft ist die einzige Akteurin, die langfristiges Interesse, im Sinne einer Zeitspanne von ein bis zwei Generationen, am Klimaschutz hat. Alle anderen Akteur:innen sind abhängig: Politiker:innen von Wahlen, Unternehmen von Regulation“ (van Bronswjik 2020).

Nicht nur ein guter öffentlicher Diskurs kann viele gute Argumente auf den Tisch bringen. Auch die Zivilgesellschaft kann in unterschiedlichen Rollen - strategisch oder einfach durch ihr Verhalten - Einfluss auf die Teilsysteme nehmen. Sie kann beispielsweise als Wähler:in oder Demonstrant:in auf die Politik, als Kläger:in neue Justizentscheidungen provozieren, als Konsument:in oder in Gewerkschaften auf die Wirtschaft oder durch die Geldanlagen auf die Finanzwirtschaft. Gleichzeitig nehmen Akteur:nnen der Teilsysteme mit ihren Strategien auch Einfluss auf die Öffentlichkeit, versuchen diese zum Beispiel durch Propaganda, Strafen, Werbung, Manipulation oder Anreize zu „kolonialisieren“ (Habermas 1994).

Einfluss von Krisen

Normalerweise sind die Codes der Teilsysteme sehr stabil, es können dann nur Programme innerhalb des Codes innovativ gestaltet werden. Systemtheoretische Überlegungen legen nahe, dass in Phasen großer Fluktuationen, Krisen und Meinungsumbrüche auch der Code dieser Teilsysteme modifiziert werden kann. Allerdings ist in solchen „nicht normalen Zeiten“, in denen die Politik „flüssig“ wird, mit Verzweigungspunkten zu rechnen: der Code könnte in entgegengesetzte Richtungen grundlegend verändert werden. Die Krisen und Fluktuationen der letzten Dekade sprechen dafür, dass wir uns in solchen unnormalen Zeiten befinden, oder uns diesen annähern könnten. Damit werden sowohl die Chancen als auch die Risiken größer. Einerseits könnten grundlegendere Umgestaltungen – etwa eine grundlegende Neudefinition von Wachstum – und Paradigmenwechsel für das Handels- oder Finanzsystemdenkbar werden, die bisher nur als „Rauschen“ vom politischen System wahrgenommen wurden. Andererseits könnten auch ganz andere grundlegende Umbrüche denkbar werden, etwa in Richtung eines autoritären Systems.

Noch stärker wird dieses Modell in Kombination mit weiteren Ansätzen, die durch soziale Bewegungen mit Protest und zivilem Ungehorsam gekennzeichnet sind und versuchen, die gegenwärtige Funktionsweise der Systeme und Codes zu hinterfragen und zu unterbrechen. Es ergänzt solche Protestformen, um „die klimapolitisch notwendigen radikalen Ziele nicht nur zu fordern, sondern die Wahrscheinlichkeit ihrer Umsetzung zu steigern“ (Bals 2002: 11).

Key-Take-Aways

Was sind deine Take-Aways? Wenn du an deine eigene Bildungsarbeit denkst: Was erklärt das Modell und was nciht? Wenn du an dein eigenes Engagement denkst: Wofür nützt es dir dieses Modell zu kennen? Wofür eher nicht? Wir haben ein paar Pro und Kontras gesammelt, die du hier aufklappen kannst.

  • Verständnis von systemischen Rationalitäten: Ziele, Codes, Zeithorizonte

  • Erklärungsansätze, warum viele wichtige Anliegen nicht ausreichend Gehör finden

  • Blick für Möglichkeitsräume, wenn Türen in manchen Teilsystemen verschlossen sind

  • Grundlage für eigene Argumentation und Strategieentwicklung

  • Niederschwellige oder einfache Zugänge für transformatives Engagement

  • obwohl Bildung in diesem Modell eine wichtige Rolle spielen könnte, wird sie im Modell nicht explizit diskutiert

  • bietet wenig Ansatzpunkte für die Überwindung von systeminhärenten Logiken, weil die Codes in politisch stabilen Zeiten als gesetzt gelten

Die vier beschriebenen Modelle helfen auf einer übergeordneten Ebene zu verstehen, wie transformative Prozesse ablaufen. Sie geben Hinweise auf unterschiedliche Rollen, die wir einnehmen können, um Transformationsprozesse zu unterstützen und mitzugestalten. Dennoch bleiben viele Fragen, wie zum Beispiel „Wo kann ich anfangen?“, „Wie kann ich lernen, eine transformative Rolle wirksam auszufüllen?“ oder „An welcher Stelle kann ich die Transformation oder ihre Teilprozesse am besten unterstützen?“. Transformative Bildung bietet eine Hilfestellung, um diesen Fragen nachzugehen. Sie ist in der Lage, Lernräume für und innerhalb von Transformationsprozessen zu eröffnen, die erst den Zugang für transformatives Handeln und Wirken schaffen.

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Copyright: Germanwatch | Illustration: Benjamin Bertram
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Das Konzept des Handabdrucks ermöglicht uns dabei eine positive Perspektive auf das Handeln als gemeinschaftliche Gestaltung der Transformation zu bekommen. 

An diesem Punkt setzen deshalb auch die Impulse und Angebote auf diesem Blog an. Stöbert euch durch und ihr werdet etwas finden, das euch hilft selbst ins Engagement zu kommen oder eure Zielgruppen in der Bildungsarbeit dabei zu unterstützen.

Bals, C. (2002): Zukunftsfähige Gestaltung der Globalisierung: Am Beispiel einer Strategie für eine nachhaltige Klimapolitik. Erschienen in: Zur Lage der Welt. Herausgeber: Worldwatch Institute in Kooperation mit Germanwatch.

Dieser Beitrag stammt ursprünglich aus der Publikation Transformation gestalten lernen und wurde von Marie Heitfeld und Alexander Reif geschrieben. Die komplette Broschüre zum Download gibt es hier.

Literatur:

Bals, C. (2002): Zukunftsfähige Gestaltung der Globalisierung: Am Beispiel einer Strategie für eine nachhaltige Klimapolitik. Erschienen in: Zur Lage der Welt. Herausgeber: Worldwatch Institute in Kooperation mit Germanwatch.

Göpel, M.; Remig, M. (2014): Mastermind of System Change. Karl Polanyi and the “Great Transformation”. GAIA – Ecological Perspectives for Science and Society, 23(1): 70-72.

Habermas, J. (1994): Faktizität und Geltung – Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 4. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.

Luhmann, N. (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Band II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.

van Bronswjik, K. (2020): Zivilgesellschaft in der Klimakrise: Wandel ohne Panikmodus. Artikel online erschienen in der taz am 25.09.2020. URL: https://taz.de/Zivilgesellschaft-in-der-Klimakrise/!5712263/ (20.11.2023)

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